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Lieblingsplatten Rezension

Gefangen mit Ryan Adams. Eine Albumbesprechung

Wie die Faszination über den Streaming-Anbieter Apple Music den Autor Marcos López einen für ihn bisher unbekannten Künstlers entdecken ließ, dem er dann seine bisher umfangreichste und längste Rezension angedeihen ließ, beschreibt „Gefangen mit Ryan Adams. Eine Albumbesprechung“. Bevor die zwölf Tracks des Albums „Prisoner“ ausführlich besprochen werden, biegt Marcos López in diverse Seitengassen seiner musikalischen Sozialisation ab, erläutert sein „Prinzip eines Albums“ und nennt dabei soviele Klangbeispiele anderer Bands und Künstler, dass höchstwahrscheinlich nicht nur das Album „Prisoner“ auf der Wunschliste des geneigten Lesers stehen wird, sondern möglicherweise auch diverse Alben von Pink Floyd, Prince oder auch Bruce Springsteen.

Um es gleich vorweg zu sagen: es geht hier um Ryan Adams, den amerikanischen Musiker, und nicht (!) um Bryan Adams, dem kanadischen Rockstar, der sich → in Oberschöneweide diverse Ateliers zulegte, die er später → wieder größtenteils verkaufte.  Und: es dauert hier relativ lange, fast 2000 Worte, bis es zur eigentlichen Besprechung von Prisoner kommt (Tipp: Zur Abkürzung geht’s → hier lang…).

Aber wie bei einem Lego-Raumschiff, das aus vielen dutzenden Teilen besteht, ist das eine ohne das andere nicht wirklich komplett. Die Grundmauern dieses Artikels entstanden bereits kurz nach Veröffentlichung des Albums Ende Februar und demnach weit vor dem bisher letzten Artikel, dem → Halbmarathon-Bericht Anfang April.

Streaming: Fluch oder Segen? Segen!

Einmal mehr halte ich mein iPhone in der Hand und freue mich. Ich freue mich über die durch Streaming-Dienste eröffneten Möglichkeiten. Zum Beispiel über diese: du entdeckst durch Zufall auf einer kuratierten Playlist — das sind redaktionell gepflegte Wiedergabelisten, und die ‚Pfleger‘ sind Experten, Promis, DJs, Journalisten, etc. — einen Song für dich (in meinem Falle war es „Doomsday“ von Ryan Adams). Du willst mehr wissen. Du klickst auf den Künstler. Zum Song und dem Künstler erscheint ein ganzes Album. Es ist brandneu, von 2017. Spitze! Der Song ist also nicht nur der Appetizer für ein noch zu veröffentlichendes Album oder gar ein One-Hit-Without-An-Album-Wonder. Es kommt noch besser: sämtliche Songs können sofort gehört werden. Es gibt keine Einschränkungen im Abspiel, was in letzter Konsequenz bedeuten würde, dass man sich doch wieder um die haptische Version bemühen muss, damit man das gesamte ‚offizielle Album‘ hören kann. Ich mag diese Fragmentierung eines Albums überhaupt nicht, es läuft meistens so:

  • in den gängigen Internet-Portalen gibt es zehn Songs
  • die dazugehörige CD offeriert in der einfachen Variante elf oder zwölf Songs
  • eine Premium-Edition präsentiert dann sogar Song Nr. 13 und 14 plus einem Schnippsel vergoldetem Klopapier der letzten Tour

Hmmpfff… Ein Album ist ein Album ist ein Album. Und bleibt eins und bleibt eins und bleibt eins. Und nicht die Summe seiner zu vermarktenden Darreichungsformen aufgrund gesplitteter Angebote. Also, das Album Prisoner von Ryan Adams ist komplett, denn das Streaming-Album und die dazugehörige CD (die ich schnell bei einem Versandanbieter im Browser aufrufe) zeigen: die Tracklist ist identisch. Super! Ich freu mich jetzt schon, noch bevor mein Finger auf den Opener im Display meines iPhones klickt. Die monatliche Flatrate von 9,99 EUR lohnt sich immer wieder und fühlt sich gut an, da ich we

iß, dass auch bei den Künstlern ein Teil dieses Geldes landet und die technischen Provider nicht alles abschöpfen. Und meine Flatrate ist sogar günstiger als 9,99 EUR, denn die Postbank bietet ein Jahresabonnement für 99 EUR an, womit man praktisch zwei Monate geschenkt bekommt bzw. der Monatspreis meiner Musik-Flatrate de facto nur 8,25 EUR beträgt.

Was ist ein ‚richtiges‘ Album? Prisoner von Ryan Adams!

Du klickst also auf das Album Prisoner von Ryan Adams, welches nach dem ersten Durchhören auch die Bezeichnung ‚Album‘ verdient. Denn es hat zehn Songs und mehr. Und die Zahl Zehn, also zehn Songs auf einem Vinyl (später auf CD), war für mich immer die ‚gefühlte‘ Hürde, die ein Album zu meistern hatte, damit sich ein Album auch ‚Album‘ nennen darf. Sicher gab es vor meiner letztendlich prägenden Zeit der musikalischen Sozialisation diverse Alben, die weniger als zehn Tracks hatten (zum Beispiel die genialen Werke von Pink Floyd The Dark Side Of The Moon [1973], Wish You Were Here [1975] und Animals [1977]) und Ausnahmen musste ich im Laufe der Jahre zwangsläufig machen, als ich nach und nach an den Prince-Alben der 1980er einen Narren fraß (Purple Rain, 1984) und ich mit Scheiben vorlieb nehmen musste, die pro Seite nur noch drei oder vier Songs offerierten. Aber ein Album, das mindestens zehn Tracks hat, fühlt sich heute noch wie ein ‚richtiges‘ Album an, selbst wenn es noch nicht einmal vierzig Minuten Spielzeit hat, wie die grandiose Moon Safari von Air (und eine dafür genutzte 60-er Kassette 20 Minuten weißes Rauschen abgibt [Old School Beispiel :-D] oder eine handelsübliche CD nur zur Hälfte genutzt wird. Was für eine Verschwendung!).

Die Wiederbelebung der rockmusikalischen Früherziehung

Die zwölf Songs des hier noch zu besprechenden Albums gehen jedenfalls runter wie Butter und hinterlassen ein spezielles Gefühl, dem du nachspürst, als auch der letzte Song im Fade verschwindet. Wow! Da war was. Um in urbanen Metaphern zu sprechen: Wie das Bild einer Frau in der U-Bahn, die längst aus dem Wagon gestiegen ist, aber die noch lange in deinem Kopf herumschwirrt. Und mit Prisoner wird plötzlich wieder die gesamte Klaviatur deiner rockmusikalischen Früherziehung wachgeküsst. Gefühle aus einer längst vergangenen Zeit tauchen mit dem Sound und den Melodien dieses neuen Albums wieder auf: wie du zwischen deinem 13. und 19. Lebensjahr wie ein Besessener deine Tapes mit Aufnahmen malträtiertest (bis zum unvermeidlichen Band-Salat), auf der Suche nach der perfekten Reihenfolge, nach der perfekten Mischung aller verfügbaren Lieblingslieder, mit den Hits aus dem Radio, mit den Überspielungen deiner gekauften Schallplatten, wie du dich in jeden Track hinein fühltest, den da jemand am anderen Ende der Welt komponiert hatte und der dich berührte – Rock, Krautrock, Hardrock, Punk, Funk, New Wave, New Romantic, EBM, Synthi Pop, Hip Hop, Electro, Country, Folk, Flower Power, Pop, Rap, Disco, Philly, NDW, etc. Name it, I heard it!

One Upon A Time In Cölbe

Eigentlich ist jede Situation dieser Zeit, die deutlicher als andere in Erinnerung geblieben ist, mit dem Zuckerguss der Sounds dieser Zeit bestäubt, mit den Songs deiner Tapes, mit den Liedern deiner Platten, von The Police, The Cure, Bruce Springsteen, Queen, Bee Gees, David BowiePretenders, Lloyd Cole & The Commotions, Prince, Earth Wind & Fire, Dire Straits und hunderter anderer. Vielleicht ist es auch anders herum und jeder tolle Song von 1980 bis 1985 triggert eine Flut an Bilderfetzen: die Knutschereien mit den Mädels, die in der Abi-Zeit beginnenden regelmäßigen Ausflüge in das P-A-F in Cölbe, kurz vor Marburg, die Fahrt nach Gießen in das eher alternative Ausweg oder das nach Haarspray, Kouros, Lagerfeld und Antaeus duftende En Vogue, das Lagerfeuer am Baggersee in Kirchhain. Ab und an ging’s auch in die große weite (Disco-)Welt, und das war zu dieser Zeit definitiv die Flughafendiscothek Dorian Gray in Frankfurt am Main. Herzklopfen bis zum Anschlag, ich war 15 oder 16, der Eintritt ab 18, ich fuhr mit meiner wunderschönen und den Führerschein besitzenden Flamme Marion (mit der nie was war und wurde, außer dass sie mir über die ganzen Jahre unserer platonischen Freundschaft wie die perfekte Frau erschien). Nun, es klappte immer mit dem Eintritt ins Dorian Gray, und wenn dann Depeche Modes „Leave In Silence“ durch die mannshohen Klangtürme drang und das Hemd und die Hose auf der Haut flatterten, bestand das Glück des Lebens in diesem puren Moment aus der Nähe zur Bassbox: „Ohhh-uoh-uoh-uoh-uoh-ouhhhhh…“

„Music Was My First Love… And It Will Be My Last“

Zurück zum Streaming, zurück zu Ryan Adams. Du lädst dir also das Album Prisoner sicherheitshalber auf dein iPhone, denn du ahnst, dass du es in nächster Zeit auch gerne Offline hören und deine Hoffnung nicht alleine auf eine gute WLAN-Verbindung im öffentlichen Raum setzen möchtest bzw. auf das Restguthaben deines Datenvolumens. Es ist Wochenende. Du stellst das Abspielen von Prisoner auf Repeat. Es versüßt dir das Wochenende, trauert mit dir um eine Trennung, lindert den Schmerz einer missglückten Affäre, begleitet dich beim Abziehen der Tapeten, die jetzt wirklich endlich ab müssen, und es leckt mit seinen Songs und Melodien deine Wunden, die aktuell so zahlreich sind, dass du gar nicht mehr weißt, wo du zuerst das Pflaster anbringen sollst… S.O.S. Aber, nach der 17. oder 18. Wiederholung von Prisoner innerhalb von zwei Tagen (echt jetzt!), denkst du dir: „Wunden? Welche Wunden? Leck mich! Ich habe alles gegeben. Du hast mich einfach nicht verdient. Und du auch nicht.“ Wie geil! Dieser Gedanke ist ein großer Kick, die Umkehrung eines Dramas, und der Rest ist halb so wild. Du hast ja immer noch die Musik, du hast jetzt dieses Album, das kannst du heute noch zehn Mal hören und morgen auch. Das kannst du hören, solange der verfickte Strom da ist – und dann noch bis ans Ende deiner Tage. Dieser Gedanke ist tröstlich, verlockend, großartig: Musik als Medizin. Und dieser Gedanke zeigt mir auch, und das im unerwarteten Gewand von Ryan Adams: Musik ist die Liebe meines Lebens. Sie ist das, was mir reingeht, was reinhaut, mich flasht. Vor allen Dingen, wenn niemand da ist, den du dir da wünscht. Musik ist es. Drück auf „Play“ und schon geht’s los. Manchmal vergisst du sie. Aber: sie ist da, kommt vorbei, wenn du es nicht erwartest. Du liebst sie über alles. Sie bleibt. Sie wird für immer da sein. Bis wir mit dem letzten Atemzug und dem letzten Herzschlag, einem Lebewohl und Good Bye unser Leben aushauchen.

Der Robo-DJ namens Random

Dann klickst du auf die Diskografie dieses Künstlers… OMG! Vierzehn Alben in elf Jahren??? Und du kannst sie mehr oder weniger  alle mit Apple Music anklicken? Danke, Apple, du bist wirklich der geilste Apfel dieser Welt. Welchen Aufwand hätte ich in den 1980ern betreiben müssen, um alle diese Alben auf meinen Tapes zu haben? Geld, per Anhalter die knapp 25 Kilometer nach Marburg an der Lahn hin und wieder zurück nach Stadtallendorf, Kassetten-Käufe, etc. Ein dreifaches Tripple-Yeah! Doch du spielst für Tage keinen einzigen Song eines anderen Albums dieses Künstlers an, denn du willst im Zauber dieser zwölf Songs von Prisoner verbleiben, in diesem Kraftfeld, das dir wieder etwas Leben, Zauber und Schönheit eingehaucht hat, Mut auch und eine Portion Klarheit für die für dich wesentlichen Dinge des Lebens. Auch beim zufälligen Abspielen der Songs verliert das Album nichts von seinem Glanz, im Gegenteil, denn nun bekommt sogar der Opener, an dem du dich im Vergleich mit den anderen Songs gerieben hast, zunehmend mehr Klasse. Überhaupt: dieser Random-Modus, dieses zufällige Abspielen, den CD-Player erstmals eröffneten (und sogar mit Fernbedienung), und der die eigentlich angedachte Dramaturgie eines Albums auf immer neue und nicht vorhersehbare Weise durchbricht, ist nach vielen Jahrens des diffusen Haderns um die ‚dramaturgische Werktreue‘ letztendlich ein großer Segen. Der Robo-DJ namens Random überrascht dich Non-stop und kann so auch das Feuer für ein seit Jahrzehnten geliebtes Album immer wieder aufs Neue entfachen. Für ein neues Album, an das man ein Doppel-Plus vergeben hat, werden so die Pausen zwischen den einzelnen Tracks zu Sekunden der kindlichen und fast kindischen Spannung. Bis der nächste nicht vorhersagbare Song plötzlich ertönt… Yeah, yeah, yeah! Und dann spielt man mit, die Western-Gitarre, das Riff, die Hook, das Solo, man wackelt mit dem Kopf, tappt mit dem Fuß, trommelt die Snare und singt mit, lauthals, schräg, falsch und mit allergrößter Wonne…

Ryan Adams – Prisoner: Die Besprechung

Ryan Adams Prisoner Cover
Das Cover von Ryan Adams – Prisoner, VÖ: 17.02.2017

01 Do you Still Love Me

Das Ryan Adams-Album Prisoner startet mit „Do You Still Love Me?“. Hmmm… „Was für ein platter Song-Titel“, denke ich, „es geht wirklich kaum abgedroschener“, aber ich lasse mich gern überraschen. Ein klassischer Orgel-Sound, wie er auch schon in Rock- und Jazz-Songs in den 70ern verwendet wurde, schwingt sich fast kathedral ein. Dann hauen für einen einzigen Beat Gitarrenriffs und Schlagwerk dazwischen, um Ryan Adams‘ Vocals die Tür zu öffnen: „I’ve been thinking about you, baby…“. Ich seufze erneut: „Ojeh, haben wir doch auch schon drei Millionen mal gehört, ob Pop oder Rock oder Kirmes-Techno„. Als der Riff des Tracks dann ganz ausgefahren wird, denke ich: „Hey, erinnert mich an AC/DCs Album ‚Back In Black‘. Schon besser.“ Nur konnten sie dort nicht so emotional über Liebe singen, weil sie um ihren trinkfesten Frontmann Bon Scott trauerten. Der war zuvor tragisch in einem Auto an seinem Erbrochenen erstickt. Trauer, Entsetzen, Huldigung und Hoffnung – all das spiegelt Back in Black auf musikhistorisch einzigartige Weise wieder.

Was mich in „Do You Still Love Me?“ selbst nach der 50. Wiederholung immer wieder zum Mitnuscheln bringt, ist der Abgang der zweiten Strophe, eine Mini-Bridge würde ich es im Songwriting nennen, wenn Ryan Adams ein Rock’n’Roll-mäßiges „Ahh ahhhhh“ anstimmt, um die fetten Akkorden des Refrains einzuläuten. Diese Stelle ist grandios, den der Refrain eilt mit vollem Strom erstmal über einen ganzen Takt voraus, bis die Frage fast verzweifelt gestellt wird: „Do You Still Love Me, Babe?“ Der schrägen Liebe, die Ryan Adams da besingt, wird im Song auch ein richtiges Gitarren-Solo abgerungen, und alleine dafür mag ich diesen Vierminüter mit den unaufhörlich zunehmenden Wiederholungen immer mehr. Gitarrensoli, und Soli überhaupt, waren die Opfer einer zunehmend formatierten Songwriting-Kultur in der Popmusik, die sich in den 80ern regelrecht viral in den Produktionen dieser Zeit ausbreitete. Die Songs wurden für Airplay getrimmt und solch ‚künstlerische Einlagen‘, die nicht jeder Verstand oder zu erdulden vermochte — zumeist das Gegniedel auf sechs Saiten —, konnte die Kundschaft vor dem Radio vertreiben. Aber bitte, ich bitte euch: was wäre Foreigners „Urgent“ ohne dieses mega-geniale Saxophonsolo, das, einmal gehört, jedem Laien wohl die Magie, Klasse und Bedeutung eines Instrumenten-Solos in einer Poprockproduktion vermitteln kann?! Wenn das Saxophon loslegt, stehen einem beim Hören die Haare zu Berge, man verwandelt sich fast unmerklich für etliche Sekunden zu einem Luftsaxophon-Spieler; man wird es, dieses Solo, einmal gehört, nie wieder vergessen. Dieses irre Solo wirkt in ungefähr so, als ob man frisch geduscht die Finger in die Steckdose hält. Es ist, ganz bescheiden ausgedrückt, das genialste Blasinstrumenten-Solo in  der Popmusik des 20. Jahrhunderts.

02 Prisoner

Auch beim zweiten Song „Prisoner“, dem Titelstück des Albums, habe ich einige Durchläufe gebraucht, um zu erkennen, dass der Schlüssel zum Verständnis dieses Songs in Roy Orbison liegt. Ist es vielleicht die Mischung aus dem Klang der Instrumente und dem offensichtlichen Old School-Songwriting? Was würde Roy „Oh, Pretty Woman“ Orbison dazu sagen? Und erst Ryan Adams? Es ist dieses Laid Back Tempo des Tracks, die gebrochenen Takte des Schlagzeugs und die im Hintergrund scheppernden Akkorde aus Westerngitarren, die so ein Vintage-Feeling á la Orbison erzeugen. Schließlich entscheide ich: es ist auch die Art wie Adams hier seine Stimme inszeniert, und dann denke ich wiederum, den Song hätte Roy „California Blue“ Orbison tatsächlich komponieren und performen können. Auch sind da wieder Fetzen der Lyrics, die mich auf identifikatorischer Ebene erreichen:

Free My Heart, Somebody Locked It Up…
If Loving You Is Wrong
I Am A Criminal, I Am A Prisoner…
For Your Love

Ich kann verstehen, warum Prisoner zum Albumtitel wurde. Es ist ein durch und durch schöner, relaxter Song. Dagegen findet ein amerikanischer Rezensent, dass es das absolut schwächste Werk des gesamten Albums ist, ein Entwurf, nicht besser als eine B-Seite oder ein Demo:

Prisoner, which unfortunately, even after prolonged and insistent listenings, might funnily enough be one of the dullest and tasteless tracks on the whole effort. Albeit being a doubtless uplifter mood-wise, especially when considered within the context of this overall moody record, the track results a bit too incomplete and frankly too naked to be a final album version, but probably too confused and at the same time elaborated to be considered as a demo or B-side. However, the title track probably remains the only lower moment on Prisoner…

Gelesen im Blog „Everything Must Swing“ von Alex Volonte: https://everythingmustswing.com/2017/03/01/alex-reviews-music-arm-ryan-adams-prisoner-1st-march-mmxvii/

03 Doomsday

Song Nr. 3 offeriert „Doomsday“, der Song, der mir, wie oben erwähnt, in einer kuratierten Playlist dadurch auffiel, dass ich dachte: „Was hat dieser 80s orientierte Rocksong in dieser Wiedergabeliste mit Singer/Songwritern verloren?!?“ Doch je länger ich diese Playlist laufen lies, desto mehr gefiel mir dieser Song mit dem Retro-Charme von Softrock aus den 1980ern – und so entdeckte ich schließlich Ryan Adams für mich.

04 Haunted House

Weiter geht’s mit „Haunted House“. Passt sehr gut in die bisherige Abspielreihenfolge des Albums. Bei diesem Song taucht erstmal die klare Assoziation zum Boss auf, ja, zu The Boss, denn Bruce Springsteen lässt hier freundlich grüßen, und das nicht zum letzten Mal. In der Art, wie Ryan Adams mit den Vocals in den Song einsteigt und wie der Refrain klingt, das ist so Springsteen-mäßig, dass es Bruce-iger kaum geht. Ich bin mir sicher: er hätte diesen Song nicht anders performed, und Adams klingt phasenweise wie the boss himself.

05 Shiver And Shake

Deutet „Haunted House“ die Nähe zur amerikanischen Rock-Legende an, wird diese Assoziation durch den folgenden Song vollends bestärkt. In „Shiver And Shake“ lauten die ersten gesungenen Zeilen:

Midnight coming an I can feel it in the air
Hear your voice, run your fingers through my hair

Aber man könnte auch locker die Lyrics von Bruce Springsteens grandiosem 2-Minuten-40-Song „I’m On Fire“ dazu singen, den Stimmung und Tonlagen können anscheinend wie von magischer Hand in einem akustischen Photoshop als Ebenen übereinander gelegt werden:

Hey little girl is your daddy home?
Did he go away and leave you all alone, mm-hmm?

Und so weiter. Obwohl sich die Songs im Tempo und in der percussiven Instrumentierung massiv unterscheiden, sorgt die bei beiden Songs im Hintergrund ähnlich agierende Synthi-Linie für das verbindende Element, das eine identische melancholische Stimmung erzeugt, obwohl im Ryan Adams Track alles wesentlich dezenter und sanfter perlt als beim fiebrigen Springsteen-Song.

06 To Be Without You

Bei „To Be Without You“ erinnert mich der gesamte Songs, also wie die Gitarre gespielt wird und das Schlagzeug seinen Groove erzeugt, an Neil Youngs Klassiker „Heart Of Gold“. Ich sehe dabei seine über die Gitarre gebückte Haltung, während seine schulterlangen Haare im Groove wippen und sein Gesicht kaum noch zu sehen ist. Ich tausche einach die Zeilen von Ryan Adams Song gegen die Lyrics von „Heart of Gold“ und singe den Anfang von „To Be Without You“ mit anderen Worten: „I wanna live, I wanna give, I’ve Been A Miner For A Heart Of Gold“. It’s a match! Will heißen: Funktioniert (und bevor ich das Prisoner-Album weiter höre, ziehe ich mir zunächst das gesamte Harvest-Album von 1972 (!) rein, mit dem ich Neil Young unverrückbar auf meiner muikalischen Landkarte platzierte).

07 Anything I Say To You Now

„Anything I Say To You Now“ beginnt mit wunderbar verflangten Gitarren, wie ich ich sie in den New Wave-Zeiten zum Beispiel von The Fixx oder Pretenders zu lieben gelernt habe. Die Produktion klingt wunderbar crispy und jeder Schlag auf dem Ride-Becken ist so klar und hell, wie der Text unmissverständlich das Ende einer Beziehung, einer Freundschaft besingt: „Anything I say to you know, but goodbye, is a lie.“ Dieser Gitarren-Sound bleibt hängen, genau wie der traurige Refrain. Dear Ryan, I know what you mean…

08 Breakdown

Das gezupfte Intro von „Breakdown“ assoziiert für einige Sekunden die Möglichkeit, dass dieser Song auch von Led Zeppelin oder Metallica stammen könnte. Aber Ryan Adams kommt schnell zur Sache und löst dieses Missverständnis durch seinen Gesang auf, während man sich wünscht, dass dieser Anfang einen noch weiter getragen, noch länger gedauert hätte als elf Sekunden. Es ist dunkel in diesem Lied mit dem verschachtelten, verschleppten Rhythmus: „Oh, my soul black as coal… Oh, my soul lost control… Feel like I’m headed for a breakdown.“ Adams fragt sich, in diesem Song, ob er S-I-E verloren hat oder doch eher seinen Verstand. Egal wie, er steht kurz vor dem Breakdown, und der grandiose Refrain führt den gesungenen Part durch eine interessante Gitarrenlinie, die wie ein schreiendes Aufbäumen seines Lieblingsinstrumentes gegen diese offensichtlich unausweichliche Tatsache klingt. Das Ganze wird immer wieder überlagert von Gitarrenakkorden, deren Maximal-Pegel in punkto Chorus und Flange offensichtlich über dem Gain gepegelt wurden. Geiler Song!

09 Outbound Train

In „Outbound Train“ begegnen wir erneut der Springsteen’schen Kompositionslehre und der typischen Atmosphäre eines Songs vom Boss. Dabei liegen „Outbound Train“ von Adams und „Downbound Train“ von Springsteens  Mega-Album Born In The U.S.A. trotz der phonetischen Ähnlichkeit der Titelnamen zwar gefühlte Meilen auseinander. Aber trotzdem drängt sich für einen Kenner beider Alben dieser Eindruck zunehmend auf, der eventuell von den auf beiden Songs scheppernden, rauen Drums erzeugt wird.

10 Broken Anyway

Zehnter Track – ab hier wird für mich ein Album komplett, bleibt sozusagen nicht unvollendet. Die Akkorde im Intro werden auf der Gitarre so gespielt, dass sie gleich wieder gedimmt werden, und dabei entsteht ein wohliges funky feeling, zu dem die düsteren Lyrics von „Broken Anyway zunächst mal gar nicht passen wollen…

Problem is what we wanna say
What we wanna say will just blow us both away
It’s ice cold and it just rained
Everything we were’s going down in an endless drain

Die erste Strophe und sogar der erste Refrain von „Broken Anyway kommen nur mit der akustischen und einer im Hintergrund mit reichlich Tremolo wabernden elektrischen Gitarre daher. Und während man sich darauf einstellt, dass das hier schon ausreicht, um einem klassischen Ein-Mann-eine-Gitarre-Track zu lauschen, setzt für die zweite Strophe plötzlich das ganze Besteck ein: Drums, Bass, Claps, etc. Wow! Im Refrain werden die dem Song zugrunde liegenden Griffe durch die gezupften Melodien der E-Gitarre bereichert, während diese schließlich in ein weiteres Instrumentensolo des Albums mündet. Die kurze Hoffnung, dass sich die erzählte Geschichte zum Guten wendet wenn Adams singt…

Whatever was, whatever it became
Whatever we would still be together in some ways

…wird schließlich durch die massive Wiederholung des Refrains zunichte gemacht, dem schließlich noch ein wahrer K.O.-Schlag eingeflochten wird…

It was broken anyway…
It was broken anyway, it was fake

And all along a world of pain

„Broken Anyway“ ist ein Song, der eine schwer zu greifende Stimmung erzeugt, zwischen Trauer und Güte, zwischen Dunkelheit und Zuversicht. Das passiert bei einigen Songs von Prisoner, da sie das Scheitern einer funktionierenden Liebesbeziehung zum Thema haben und den Versuch, das zu verstehen, zu erklären, was nicht verstanden wird oder erklärt werden kann.

11 Tightrope

„Tightrope“ gehört zu meinen Favoriten von Prisoner. Ein klassischer Singer/Songwriter-Track ‚bloß‘ mit Gitarre und Stimme performed – wäre da nicht die überraschende Saxophon-Improvisation am Ende des Tracks. Herrlich, wie die Westerngitarre in zehn Sekunden das Beet für die Vocals ebnet. Ich groove diesen Song ohne Schlagzeug praktisch von der ersten bis zur letzten Sekunde mit, auch weil Ryan Adams diesem Song auf eine Weise wiedergibt, die mich sehr berührt. Er schafft im Refrain kaum die höchsten Töne und eiert fast — auch das finde ich irgendwie bewegend — aber wenn ich die Geschichte dieses Songs verstanden habe, dann ist es das: die Sache [mit deiner Liebsten] kann dir jederzeit um dir Ohren fliegen, aber halte nichts zurück, schau dir die Dinge an und hol alles raus. Und iwe immer bietet auch die Lyrik eines Popsongs viele Wege der Interpretationen.

Nun, an dieser Stelle, nach dem elften Song könnte das Album Prisoner von Ryan Adams definitiv beendet sein. Ich bin satt und  „Tighttrope“ wäre ein würdiger Abschluss, zumal der Song ohne Schlagzeug oder große Effekte fast die Funktion eines Fade Outs einnimmt, wie ein Epilog in einem Buch, dass einen bis zur letzten Seite fortgetragen hat. Doch: dem ist nicht so, und einer geht noch…

12 We Disappear

Während dieser Song mit einem Gitarren-Sound aufwartet, für den ich äußerst empfänglich bin — eine Mischung aus Chorus und Flanger — und den ich besonders in den Frühzeiten des New Wave Anfang der 1980er des Öfteren bei Pretenders („Brass in Pocket“) oder auch The Police („Walking On The Moon“) zur Kenntnis nahm, schwingt sich Ryan Adams in „We Disappear“ mit fast herausgepresst wirkende Vocals in diesen Song ein. Die assoziative Collage, die er in diesem Song mit seinen Lyrics kreiert, steht interessanterweise eine Song-Struktur entgegen, in der es den üblichen harmonischen Aufbau eines Poprock-Songs nicht zu geben scheint: es gibt keinen wirklich zu bemerkenden kompositorischen Wechsel zwischen Strophe und Refrain. Es ist eine Hook, die den Song in einer großen Schleife trägt, und diese wird variiert. Aber Ryan Adams schafft es durch die Art seines Gesangs einen Bilderreigen in Strophen zu entwerfen, während auf den scheinbar gleichen Akkorden auch der Refrain zum Besten gegeben wird. Diese Erkenntnis ist wie ein Fragezeichen für die dem Song innewohnende Kraft; sie hat eine Sogwirkung bezüglich der Abspielhäufigkeit dieses Tracks, weil man begreifen will, wie es sein kann, dass offensichtlich Strophen gesungen werden, Refrains gesungen werden, aber die Gitarre unerbittlich eine immer gleiche magische Akkordreihenfolge zum Klingen bringt, der ganz zum Schluss noch eine brachiale Filterwand zur Hilfe eilt, die „We Disappear“ auch vom Sound Engineering her richtig groß werden lässt. Sehr geiler Schlusspunkt für das Album!

Fazit: ein faszinierendes Album

Wie ganz zu Anfang dieses Artikels bereits beschrieben, habe ich über sehr viele Tage und Nächte dieses Album in einem Loop gehört, nichts anderes Drang an meine Ohren. Immer und immer wieder habe ich es laufen lassen, bin mit ihm gelaufen, Fahrrad gefahren, einkaufen gewesen, Wohnung renoviert, Wohnung aufgeräumt, damit aufgestanden, am Computer gehört, U-Bahn gefahren, etc. Ich habe die ‚Begegnung‘ mit diesem Album als ein wunderbares Geschenk empfunden, einen herrlichen Zeitvertreib, der mir viel Freude bereitet hat. Über den Frühling des Jahres 2017 wird nun für immer der feine Goldstaub von Prisoner seinen zarten Glanz entfalten 🙂

Nach und nach wurde mir zudem klar, dass dieser Musiker schon enormes geleistet und dass er mit diesem Album offensichtlich eine weitere Tür auf seinem Weg in die unvergesslichen Ruhmeshallen des Rock’n’Roll aufgestoßen hat. Weil er seinen eigenen Stil hat und doch die amerikanische Kultur des Rock in jeder seiner Kompositionen zu spüren ist, weil er den Mut hat, schräg, erfinderisch, nicht konform zu sein, und weil er offensichtlich ein guter Musiker ist, der authentisch seinen Traum lebt und keine Angst hat, sich in die Karten schauen zu lassen, wie es um ihn, sein Leben, seine Beziehungen und um seine Verzweiflung steht. Die wichtigste Erkenntnis dabei: Die Songs kommen von Herzen, das spürt man.

Zum Abschluss dachte ich, dass ein Amerikaner, vertraut mit der Musikkultur und -geschichte einer stolzen Nation, hier sicherlich einen Schlusspunkt setzen kann, der die Einordnung in die US-amerikanische Musikszene glaubwürdiger bewältigt (als ich das jemals werde tun können). Und so schließe ich mit den letzten Worten von → Alex Volontes Rezension zum gleichen Album:

The overwhelmingly positive reception the record has gotten around the world does nothing else other than confirming that we, the people, needed a record like this in present times of disorder, dismay and loss of connections. That is, by figuratively stripping himself completely naked and putting his most inner emotions out there telling stories of his failed marriage and connected despair, Ryan Adams showed us all that there is nothing to fear in being open and transparent about oneself and, most importantly, that honesty and truth will eventually unite us all in appreciation. Because at heart, we really shouldn’t be capable of nothing else.


Ryan Adams Prisoner Cover
Erschienen am 17. Februar 2017: Ryan Adams – Prisoner

Künstler: Ryan Adams

Album: Prisoner

VÖ: 17.02.2017

Genre: Rock

Label: PaxAmericana Recording Company

→ http://paxamrecords.com


Wer die zahlreichen Band- und Künstlernennungen dieses Artikels, die auch als Anspieltipps verstanden werden können,  nochmals gebündelt sehen möchte… Voila! Here they are:

  • Roy Orbison – Oh, Pretty Woman (1964)
  • Led Zeppelin – Led Zeppelin (1971)
  • Neil Young – Harvest (1972)
  • Pink Floyd – The Dark Side Of The Moon (1973)
  • Pink Floyd – Whish You Were Here (1975)
  • Pink Floyd – Animals (1977)
  • The Police – Regatta De Blanc (1979)
  • AC/DC – Back In Black (1980)
  • David Bowie – Scary Monsters (1980)
  • Pretenders – Pretenders (1980)
  • Foreigner – Urgent (1981)
  • Depeche Mode – Leave In Silence (1982)
  • The Fixx – Less Cities, More Moving People (1984)
  • Prince & The Revolution – Purple Rain (1984)
  • Lloyd Cole & The Commotions – Easy Pieces (1985)
  • Bruce Springsteen – Born In The U.S.A. (1986)
  • Metallica – Metallica (1991)
  • Air – Moon Safari (1997)

 

Von Marcos López

Marcos López ist Musikexperte, Online-Redakteur, Web-, Medien- und Filmgestalter. Als erfahrener und versierter Spezialist hat er sich auch als Radiomoderator, DJ & Produzent einen Namen gemacht. Sein Projekt Marmion mit den Titel Schöneberg ist international bekannt. Er hat einige Weltreisen absolviert und verbrachte mehr als acht Jahre im Ausland (Australien, Costa Rica, Bali, Japan, Russland, USA, Südafrika, Thailand, Spanien, Indien, etc.). Von 2008 bis 2016 war er Redaktionsleiter der Musikvideoplattform c-tube.

Der Berliner beschäftigt sich des Weiteren mit den Themen Film, Fußball, Journalismus, Internet, Archivierung, Dokumentation, Meditation, Ernährung, Laufen und Familie.

Du findest Marcos auch auf facebook, twitter, youtube und mixcloud.

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