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ML1.0

Wie ein Wessi den Osten sieht – Teil 1

Der Text wurde erstmals auf der ersten Version der Website marcoslopez.de (von 2001 – 2010) am 30.11.2003 / 6:00 Uhr veröffentlicht. In der Kategorie „ML1.0“ werden in Zukunft weitere Texte dieser Zeit zu finden sein.

Nur drei Monate nach der Wiedervereinigung, bei der die am 07.10.1949 gegründete DDR nach fast 41-jähriger Existenz am 03.10.1990 der Bundesrepublik beitrat und damit Geschichte wurde, durfte ich Anfang Januar 1991 beim Jugendradio der EX-DDR dt64 anheuern. Mit einer mittäglichen Dance-Sendung („Step On“, montags bis freitags von 13:00 bis 14:00 Uhr) beschallte ich ein großes Gebiet: aufgrund der bundesrepublikanischen Frequenzverteilungen konnte man dt64 von Berlin bis Rügen, aber z. B. auch in Nürnberg hören.

dt64, diese seit 1986 mit eigenen Frequenzen versehene Radiostation und die Fernsehsendung elf99, waren letzte medienpolitische Rettungsversuche, die jugendliche Bevölkerung der DDR mit eigenen Programmen und Inhalten zu erreichen. Denn: ca. 80% der DDR-Bürger hatten in der Endphase ihrer Nation Westmedien genutzt.

Dreizehn Jahre nach dem Ende der DDR habe ich mich nochmals intensiv mit der Situation der Wende, der Wiedervereinigung und dem Winter 1990/1991 beschäftigt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht wirklich begriffen habe, wie außergewöhnlich meine Beschäftigungssituation war, obwohl ich zu dem Zeitpunkt Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin studierte: Dass ich nur ein knappes Jahr nach der Maueröffnung vom 09.11.1989 im Funkhaus Nalepastraße arbeitete, wo noch vor kurzem das Staatliche Komitee fur Rundfunk im Auftrag der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED den gesamten DDR-Rundfunk angeleitet, gelenkt, und kontrolliert hatte.

Aus heutiger Sicht muss ich den anderen wie ein ‚arroganter Schnösel‘ vorgekommen sein – aus dem Westen, aus Spanien, aus dem Kapitalismus, aus dem Konsum, aus dem Techno. Ich habe mich wenig um die Leute und ihre Geschichte geschert, dachte „Ich bin der Beste!“ und fand die anderen oft ziemlich blöd: die sahen anders aus, die rochen anders, die sprachen anders. Klamotten, Möbel, Autos – alles sah abgetakelt aus und mir gefiel das meiste nicht… oder ich verstand es vielleicht auch nicht. Das ein Land plötzlich aufhörte zu existieren, dass man den Leuten ihre existenziellen, moralischen und lebensphilosophischen Grundlagen genommen hatte, ihre Identifikation und Perspektiven, hatte ich, wenn überhaupt, ganz weit nach hinten geschoben. So wie viele andere wohl auch, fühlte man sich im Umgang mit den ‚Ossis‘ zunächst wie ein Gewinner: „Seht ihr’s! Unser System hat gesiegt, wir haben mehr Geld und du bist ein bisschen zurück geblieben!“ Das Gefühl war irgendwie diffus, es sprach niemand aus, aber ich weiß, dass das viele dachten – und sich auch so benahmen. Es klingt sehr hart: aber bei mir hat es einige zeit gedauert, bis ich die anderen Deutschen nicht mit den Augen eines Eroberers wahrnahm.

DDR-Bürger hatten einen anderen Umgang miteinander, waren sehr fürsorglich, herzlich und nicht so auf Äußerlichkeiten fixiert. Die Zuneigung, die mir im Laufe meiner DJ-Karriere dann von ihrer Seite zuteil wurde, war ein großes Geschenk und beschämt mich im Nachhinein bis heute. Einige Kontakte, die 1991 ihren euphorischen Anfang nahmen, halten bis heute an.

Wenn eine Selbsteinschätzung an dieser Stelle erlaubt ist, dann wirkte ich für bestimmte Leute sicherlich als Integrations- und Identifikationsfigur: Westdeutscher, Halbspanier, DJ, Produzent, Radiomoderator, Weltenbummler, mehrsprachig, erfolgreich. Nicht immer bin ich mir dieser Verantwortung bewusst gewesen oder habe sie gar immer ehrenhaft bewältigt. Wie auch? Zu viel Feuer im System, man brannte lichterloh und denkt Mitte 20 in Leonardo Di Caprio’scher Manier: „I am the king of the world!“. Und eigentlich wollte ich immer nur eines: Musik spielen, die ich so liebe, sie anderen zeigen und sie an meiner Freude teilhaben lassen. Nicht mehr und nicht weniger. Alles andere war Politik, Paktieren, Taktieren. Und ich hatte keinen Bock darauf!

Ich habe 13 Jahre nach der DDR die Zeit gefunden, mich mit diesem Land zu beschäftigen, den Strukturen, der Politik, der Gesellschaft, dem Mediensystem und im besonderen dem Hörfunk. Die entstandenen Aufsätze werden in den nächsten Wochen hier auf der Homepage veröffentlicht und von den MP3s im Dezember 2003 begleitet werden, einer kompletten dt64-Sendung aus dem August 1993 (Partyzone, 21.08.1993, 19-24 Uhr), als das Jugendradio nur noch auf Mittelwelle bzw. über Satellit und Kabel zu empfangen war.

Diese Zeilen sind nicht als erneute Provokation zu verstehen, sondern als persönliches Bekenntnis, das gerne auch zur Diskussion dienen kann. Denn dem gelobten „Wir sind das Volk!“ folgte zwar „Wir sind ein Volk!“. Tendenziell komme ich mir aber in diesem Lande vor, als ob auf den Transparenten der anstehenden Demos demnächst „Wir sind kein Volk!“ stehen müsste. Der Fremdenhass geht mir ‚auf den Senkel‘, der Neid und das ewige Gejammer ebenso. Deutsch ist, wer hier lebt und sich zu diesem Land bekennt, seinen Werten und seinen Leuten. In diesem Sinne: fühlt euch umarmt. Kommentare, Anregungen und Kritik sind jederzeit erwünscht.

Marcos (30.11.2003 / 6:00)

Von Marcos López

Marcos López ist Musikexperte, Online-Redakteur, Web-, Medien- und Filmgestalter. Als erfahrener und versierter Spezialist hat er sich auch als Radiomoderator, DJ & Produzent einen Namen gemacht. Sein Projekt Marmion mit den Titel Schöneberg ist international bekannt. Er hat einige Weltreisen absolviert und verbrachte mehr als acht Jahre im Ausland (Australien, Costa Rica, Bali, Japan, Russland, USA, Südafrika, Thailand, Spanien, Indien, etc.). Von 2008 bis 2016 war er Redaktionsleiter der Musikvideoplattform c-tube.

Der Berliner beschäftigt sich des Weiteren mit den Themen Film, Fußball, Journalismus, Internet, Archivierung, Dokumentation, Meditation, Ernährung, Laufen und Familie.

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